Nancy Jahns

Laufen – es ist ein Kreis

aus dem Text zur Ausstellung im Kunstverein Dessau 2015

Cornelia Wieg, Kunstmuseum Moritzburg, Halle

Laufen – es ist ein Kreis beschreibt Nancy Jahns künstlerische Bewegungsform. Diese Bewegung Entwicklung zu nennen, wäre zwar möglich, trifft aber in der Zielgerichtetheit am Wesen ihres Arbeitens vorbei: Kreis und Gerade sind gleichzeitig da und gleich stark, so dass vielleicht eher von unregelmäßg umrundender Näherung zu sprechen wäre – um das Paradox dieser künstlerischen Bewegungsart irgendwie in ein Wortbild zu fassen. Und was wird umrundet? Ich würde sagen: das Geheimnis der Realität, die tiefer reicht, als an unsere Erkenntnis und uns fremder ist, als wir angesichts ihrer Oberflächen denken.
Pier Paolo Pasolini, der Dichter und Regisseur, der das Verschwinden der volkstümlichen italienischen Dialekte als einen der vielen Verluste von intuitiver, subjektiver Weltverbundenheit beklagte, spricht von dieser geheimnisvollen Realität nicht erklärend, sondern zu ihr sich hin „fabulierend“ in „Affabulazione“ (1972).

„[…] die Realität, die mir entweicht:
Und ich muss sie nicht lösen, weil sie kein Rätsel ist:
Ich muss sie kennen lernen – sie berühren, sehen und hören –
Weil sie ein Geheimnis ist …“

An den Rändern von Existenz, in deren Grauzonen die Bahnen nebensächlicher Erscheinungen der Welt sich langsam dem Abgrund des Vergessens zuneigen, tastet sich Nancy Jahns Werk entlang. Sie richtet ihren Blick auf die im Dämmer aufleuchtenden Momente, kleine Geschehnisse kurz vor dem Verschwinden. Sie erlöst übrig gebliebene Dinge, die der sich brutal beschleunigenden Gegenwart lächerlich geworden sind, Kramdöschen, in denen sich noch Reste von Schicksal finden, behutsam aus ihrer vorbestimmten Sozialästhetik. Sie macht sie absichtslos und nimmt ihnen die Last der Zeit, die sie uns so abgelebt erscheinen lassen. Eine nicht unbedingt große Wendung, eine Verschiebung der Perspektive, mit der Entschiedenheit und dem wärmenden Kalkül einer Zuneigung ausgeführt, in die sich keinerlei Verachtung gegenüber der Ästhetik des Vergangenen mischt, bringen etwas hervor, was die Unbeholfenheit löst und unsere Wahrnehmung erfrischt – eine kleine, sichere ästhetische Operation, die den Hauch der Schönheit entdeckt und erneuert. Ein Angebot, dass sich am Rand unserer Sehgewohnheiten, am Rand unseres Bewusstseins, am Rand unseres wissen wollenden Blicks aufhält, wie aus dem Augenwinkel erhascht.
Bilder aus Estland, nur einen Moment uns diaphan vor Augen stehend, um wieder zu verlöschen: die vielen Formen von Schnee- und Eisresten, achtlos beiseite geschoben, mit ihren komplexen Strukturen in wunderbarer Vielfalt, kleine Kosmen – immer in Veränderung, zerfließend, zerbröselnd, vergänglich. Die Spuren von Füßen, vergängliche Abdrücke unserer Existenz, unseres Gehens, unserer Bewegung. Spuren von Realität, Spuren eines Mysteriums …